Donnerstag, 18. September 2014

Brille

Bon­­jour! Sie sind ab­­sicht­­lich oder zu­­fäl­­lig auf den Sei­­ten einer Dol­met­scherin und Über­setzerin für die fran­zö­si­sche Sprache gelandet. Ich berichte hier über den All­­tag der Französischdolmetscher und anderer Spracharbeiter — aus meiner streng sub­jek­ti­ven Perspektive.

Unbezahlte Freiberuflerarbeit: Das Abheften der Verträge, Vokabellisten und di­ver­ser Arbeitsmaterialien. Besonders fällt in Deutschland das Sortieren und Er­fas­sen der Belege ins Gewicht.

Ladenschild, gesehen in Kreuzberg
Alle Jahre wieder brauchen Bril­len­schlan­gen wie ich neue Sehhilfen. Was die Kasse von den Kosten übernimmt, ist lächerlich. Dass meine Gläser irgendwas zwischen neun und zehn Dioptrien minus aufweisen, ist meine Pri­vat­sache. Mit den "Ge­sund­heits­re­for­men" ging im Rückblick die Schwächung der So­li­dar­ge­mein­schaft los. Für Brille und Er­satz­brille zahle ich jedes Mal den Gegenwert einer Monatsmiete für eine geräumige Ber­liner Wohnung mit Ne­ben­kosten, Strom, Gas, Versicherungen, Re­pa­ra­tur­rück­lage und Telefon/Internet sowie Sachmittelverbrauch im Büro.
Eine Erklärung, warum es gerecht sein sollte, dass meine Fehlsichtigkeit Pri­vat­sache sein sollte, will mir partout nicht einfallen.

Ich habe mir diese Myopie, garniert mit einem leichten Astigmatismus, weder aus­ge­sucht noch habe ich sie verursacht. (A propos Verursacherprinzip: Fürs Rau­cher­bein kommt die Gemeinschaft der Versicherten auf.) Was mich fortgesetzt irritiert: Wa­rum ist diese Abschaffung offenbar auf keinen Wi­der­stand ge­sto­ßen? Wenn ich mich um­se­he, gibt es heute bald ebenso viele Bril­len­trä­ger wie Menschen ohne. War denn "da­mals" die Gesellschaft noch nicht so alt? Waren Brillenträger noch eine Min­der­heit? Haftete dem Nasenmöbel einst noch der Ruch des Accessoires best­aus­ge­bil­de­ter Besserverdiener an?

Und was war überhaupt die Alternative? Dieses Augen-sind-Privatsache-Ding möch­te ich probehalber mal kurz mit einer (eben­so will­kürlichen) "Pri­va­ti­sie­rung" eines an­de­ren Körperteils vergleichen: Wie wäre es, wenn die Kasse statt der Fehl­sich­tig­keit ... hm, sagen wir mal das linke Bein pri­va­ti­siert hätte? Das rechte ist Teil der So­li­dar­ge­mein­schaft, na klar, aber das linke, sorry, das ist Privatsache, Luxus, also dafür müssen die Men­schen schon allein aufkommen.

Wenigstens kann ich diese Luxusausgaben fürs Gesicht von der Steuer absetzen. Muss auch. Ohne sie wäre ich aufgeschmissen. Ich kann nur siebenkommafünf Zen­ti­me­ter ab Nasenspitze klar sehen. Fürs Küssen ist das ein enormer Vorteil! Daher weht also der Wind. Und fürs Handling der Hauptbrille, des Top-Modells mit hoch­bre­chen­dem Glase, gibt's eine einfachere (und doppelprivate) "Brillensuchbrille".

Privatsache sind auch meine ausschließlich beruflich genutzten Kostümchen und Anzüge samt deren Wege in die chemische Reinigung. Begründung: Ich könnte die Sachen ja auch privat tragen. Na klar. Als wäre ich nicht am Ende langer Tage ein­fach nur glücklich, aus meinen Weißkitteln, Blaumännern oder schwarzen Roben wieder rauszukommen. Im Gegensatz zu mir können die echten Träger dieser Be­rufs­ver­klei­dung Erwerb, Reinigung und Reparatur ihres jeweiligen Gewandes bei der jährlichen Abrechnung dem Finanzamt präsentieren.

P.S.: Wir gebeutelten "Spontanübersetzerinnen" (siehe Blogeintrag von gestern) freuen uns über die zweideutige Schlagzeile im Handelsblatt: "Frankreich fordert Streikende bei Air France".

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Foto: C.E. (gesehen in Kreuzberg)

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